• Das ist ja eine durchaus auch weit verbreitete Strömung der Berichterstattung/der Kommentare. Gerade so Dinge, wie, dass wir in den friedlichsten, wohlhabendsten Zeiten der Menschheitsgeschichte leben, sind ein oft wiederholtes Argument, und auch erstmal (mindestens für die letzen Jahrzehtne) faktisch richtig.

    Aber ich glaube, der Beitrag hier unterschätzt ein Phänomen, wenn ich ihn richtig gelesen habe: Während richtig die Probleme, des Skandal-Journalismus aufgezeigt werden, gibt es auch das Problem, des Nicht-Anerkennens der Probleme von Menschen, und der Unterschätzung von Entwicklungen.

    Im Gegenteil: Gerade weil es in der Faktenlage so ist, dass alle Marker, denen wir ideologische Bedeutung zuschreiben, so gut sind (Kriminalität, Frieden, Produktivität), ist der psychologische Abgrund um so stärker: Warum dann in unseren Leben mehr Kontrollverlust, mehr Druck, mehr Abstieg in Subsistenz statt Erfüllung? Selbst wenn das Subsistenzniveau höher geworden ist. Und zudem die Verunsicherung durch den Bruch dieses Statuses: Nicht erst seit Trump und Putin’s Krieg sind viele der Systeme, die für Sicherheit und Wohlstand nötig waren im Verfall. Die Profitkrise der späten 70er und ihr Schatten der neoliberalen Politik hat ja Häppchenweise schon lange die Grundlagen dieser “friedlichsten/wohlhabendsten” Ära angenagt. Wenn nun noch die Klimakrise dazu kommt, bei der man davon ausgehen kann, dass Milliarden von Menschen betroffen sein werden, ist das Unwohlsein schon begründet.

    Es ist also schwer, Menschen Vorwürfe zu machen, dass sie “Realitätsfremd” wären, wenn sie solche Dinge schlechter einschätzen, als sie sind. Sie sind oft tatsächlich fehlgeleitet, in der Art, wo sie die Probleme suchen, es fehlt oft die Sprache, ihre Probleme zu beschreiben. Damit wird es Projektion auf die Marker, die eigentlich gar nicht so schlimm sind, weil die herrschende Ideologie unmöglich macht, es anders zu denken. So werden dann ideologisch begründete Irrwege gewählt - angeblich brandschatzend rennende plündernde Immigranten zum Beispiel. Aber durchaus auch bei Intellektuellen of verfehlte Analysen.

    Nehmen wir mal das Beispiel hier aus dem Text:

    Zunächst zur Lage bei BMW: Der Konzern hat im vergangenen Jahr 7,68 Milliarden Euro Gewinn gemacht. Das ist weniger als im Vorjahr und weniger als der Reingewinn bei VW (12,4 Milliarden Euro), aber es ist vor allem: ein Milliarden-Gewinn. Das geht in der allgemeinen Berichterstattung über den Zustand der Automobil-Industrie manchmal etwas unter. Trotzdem dominiert das Wort „Gewinneinbruch“ und nicht „Milliarden-Gewinn“ die Berichterstattung.

    Dass dieser Vibe vielleicht nicht ganz zufällig ist, kann man in dieser Einordnung beim ZDF nachlesen, wo der Branchen-Experten Frank Schwope sagt: „Wer nicht jammert, der bekommt nichts. Wahrscheinlich will die Autoindustrie auf eine Elektroprämie hinaus.“ In jedem Fall kommt der Text zu dem Schluss: „Die Stimmung scheint schlechter als die tatsächliche Lage."

    Prinzipiell richtig - was hier in meinen Augen aber zusätzlich fehlt: Es geht in der Dynamik des Kapitalismus nicht darum, dass Dinge “gut genug” laufen, es geht um Gewinnmaximierung. Deshalb können auch Milliardengewinne beizeiten schlicht “nicht genug” sein, nicht nur aus psychologischen Irrtümern, sondern weil unter Umständen Investorenkapital sonst in einen Sektor mit leicht höheren Milliardengewinnen wandern kann. Zudem ist immer die Frage, wie viel totem Kapital in Aktien und Investitionen diese Gewinne gegenüber stehen, also wie die Profitrate am Ende ist.

    Genau diese Dynamik erzeugt eine Unsicherheit, einen Druck, für den die Ideologie keine passende Analyse bereithalten kann: Es muss also insgesamt schlecht sein, denn, die Absurdität, dass es nur nicht “gut genug” ist innerhalb der Dynamiken, ist etwas, dass einen am Ende zu Zweifeln an Grundlagen von Besitzrechten und Austauschdynamiken an sich führt, wenn sie konsequent weiter gedacht werden. Somit können die Dinge, für deren Analyse man eine Sprache hat, nicht gut sein, denn warum sonst gibt es diese allumfassende Unsicherheit?

    • NeoNachtwaechter@lemmy.world
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      1
      ·
      1 hour ago

      dass wir in den friedlichsten, wohlhabendsten Zeiten der Menschheitsgeschichte leben, sind ein oft wiederholtes Argument, und auch erstmal (mindestens für die letzen Jahrzehtne) faktisch richtig.

      Ääähh… Nein.

      Wir leben nur an einem Ort, wo eine Weile kein Krieg war.

      Und das ist gar nicht so ungewöhnlich. Gleichzeitig finden an anderen Orten Kriege statt. Wenn du andere Metriken verwenden würdest, z.B. wieviele Menschen weltweit in einem Jahr von Krieg betroffen waren, würde das Ergebnis viel düsterer aussehen, auch im Vergleich mit der Menschheitsgeschichte.

    • fuzzy_feeling@programming.dev
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      4
      ·
      6 hours ago

      Im Gegenteil: Gerade weil es in der Faktenlage so ist, dass alle Marker, denen wir ideologische Bedeutung zuschreiben, so gut sind (Kriminalität, Frieden, Produktivität), ist der psychologische Abgrund um so stärker: Warum dann in unseren Leben mehr Kontrollverlust, mehr Druck, mehr Abstieg in Subsistenz statt Erfüllung?

      ich hab den artikel nur überflogen, weil mir einige aspekte fehlten. das hauptproblem ist doch die gesammte aufmerksamkeits-ökonomie. die medien merken doch, dass sich schlechte nachrichten besser verkaufen. empörung funktioniert doch auch wunderbar auf “social” media.

      und es gibt leider menschen, die nicht auf das wohl der allgemeinheit bedacht sind. fatal wird es dann, wenn diese menschen die möglichkeit erhalten, die medien zu beeinflussen. weil ihnen das medium gehört (rupert murdoch, elon musk, etc) oder weil sie per “bots” und “influenzer” aufmerksamkeit erzeugen.

      wir sehen gerade dabei zu, wie die usa vom neo-liberalen turbo-kaptitalismus in den fashismus abrutscht. befeuert von den medien. und damit meine ich nicht nur fox-news. selbst msnbc, cnn, nyt, etc sind der empörungsspirale verfallen. dazu kommt, dass mikro-targeting + “ai” dafür sorgt, dass twitter, insta, tik-tok, youtube, etc uns die scheiße nur so um die ohren haut. und zwar passgenau.

      jd vance hat doch in münchen gesagt, was los ist. “the enemy within” er meinte es anders, klar. aber, “was ich denk und tu, trau ich anderen zu.” im englischen “projection”. man sollte sich dann auch mal seinen buddy peter thiel anscheuen, vorallem was der so für eine weltanschauung hat. genauso peter andreesen, curtis yarvin oder den rest der paypal-mafia.

      will sagen: ich glaube wir stehen grade an einem kipppunkt. was mich positiv stimmt ist, dass es eine gegenbewegung zu dem amerika-wahnsinn zu geben scheint. wir müssen jetzt dran bleiben. endlich ein afd verbot, “social” media endlich effektiv regulieren, medienkompetenz lehren, you name it. aber es muss jetzt passieren, während wir sehen, was für folgen es ansonsten haben wird.

      menschheitsgeschichtlich sind wir schon so weit gekommen. es ging in der gesammten zeit sicherlich nicht nur bergauf, aber der trend ist entscheidend. wir mögen grade in einer schwierigen phase stecken, das sollte uns aber niemals davon abhalten, für unser grundverständnis von menschenrechten einzustehen. wir haben das glück auf dieser seite der erde geboren zu sein. unsere regierung hat die möglichkeit knapp eine billion ins system zu kippen. lass uns “den da oben” auf den sack gehen, wenn sie falsche entscheidungen treffen. merz war sichtlich beeindruckt von den brandmauer-protesten.

      wir dürfen uns nur nicht auseinander treiben lassen.
      elbows up…